Stressvermeidung durch Nichtkämpfen

Veröffentlichung von Dr. Stefan Rößler in "Natur und Heilen"

 

Das Leben ist ein ständiger Kampf. Fressen oder gefressen werden, das uralte Naturprinzip, gilt heute für uns glücklicherweise nur noch im übertragenen Sinne. Der Kampf hat sich äußerlich verändert, die inneren Strukturen sind gleichgeblieben. Wir kämpfen um Ruhm, Einfluss, Reichtum, Ehre, Anerkennung, Macht. Wir kämpfen gegen unsere inneren Ängste, gegen das Altern, gegen Übergewicht. Wir kämpfen sogar um Glück und Liebe. (Lassen sich Glück und Liebe durch Kampf erreichen?)

Der ständige Kampf kostet uns wichtige Energien, er verursacht Stress im Körper, egal ob der Konflikt auf geistiger, seelischer oder körperlicher Ebene ausgetragen wird. Unsere archaische Reaktion auf Stress zu reagieren hat sich in den letzten paar hunderttausend Jahren nicht verändert:

Unsere Hormondrüsen schütten Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin, ...) und Cortisol aus, um unsere Kampfbereitschaft oder Fluchtgeschwindigkeit zu erhöhen. Der Blutdruck steigt, der Puls wird schneller, die Muskeldurchblutung steigt, Zucker- und Fettstoffwechsel ändern sich, um Energie für Kampf oder Flucht bereitzustellen. Kommt es zu einer körperlichen Anstrengung, werden die Veränderungen über den Energieverbrauch wieder zurückreguliert. Dieses "Abarbeiten" durch intensive körperliche Aktivität kann uns vor den negativen Auswirkungen des Stresses schützen. Aber nur, wenn es zeitnah nach dem Auslösen geschieht. Die wenigsten Gestressten haben die Möglichkeit dazu. Es reicht nicht, den Stress der ganzen Woche mit einmal Joggen am Sonntag abzuarbeiten.

Der chronische Stress macht uns krank. Experten schätzen den Anteil der Erkrankungen, die mittel- oder unmittelbar stressbedingt sind, auf mindestens 80%. Stress macht auf Dauer hohen Blutdruck, der als wichtiger Mitverursacher von Herz-Kreislauferkrankungen gilt, da hoher Blutdruck die Innenschicht der Arterien schädigt. Nur aufgrund dieser Schädigung haben Cholesterin und andere Lipoproteine die Möglichkeit sich anzulagern und so zur Gefäßverkalkung zu führen. 50% der Deutschen sterben an Herz-Kreislauferkrankungen!

Stress unterdrückt durch die Cortisolausschüttungen unser Immunsystem, die Neigung zu Infekten und Krebserkrankungen steigt. Stress erhöht die freien Radikale im Körper, die Zahl der Zellschäden steigt, wir altern schneller. Stress beeinflusst unsere Hormone und unsere Gefühle. Die Produktion vor allem der Geschlechtshormone wird verlangsamt. Ein bekanntes Beispiel ist das Ausbleiben der Regelblutung bei Frauen in Kriegs- oder Krisengebieten. Beim Mann sinkt der Testosteronspiegel ab. Antriebsmangel und Libidoverlust können die Folge sein. Stress macht Schlafstörungen, Depressionen, Verdauungsstörungen. Diese Auflistung ließe sich beliebig fortsetzten.

Unsere moderne Medizin behandelt die Symptome und selten die Ursache. Der Stress bleibt und es bilden sich neue, andere Symptome.

 

Lösungsansätze: Stressbewältigung und Stresskompensation

Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten einer aktiven Stressbewältigung; autogenes Training, Tai Chi, Yoga, Qi Gong, Meditation, Ausdauertraining

bei moderater Intensität, Muskelrelaxation nach Jacob’son, Feldenkrais-Therapie, Spielen mit den Kindern, Musizieren, Malen, Sexualität,...

Es ist schon viel gewonnen, wenn man für sich eine Strategie zur Stressbewältigung gefunden hat. Bei der Vielzahl der Möglichkeiten sollte für jeden etwas Praktikables dabei sein.

 

Stressvermeidung

Ideal wäre es, den Stress nicht bewältigen zu müssen, sondern ihn nicht entstehen zu lassen.

Es bedarf einer Analyse, wodurch der Zustand entsteht, den wir als Stress empfinden. Jeder hat seine individuellen Stressoren. Den einen stresst der Zeitdruck, den anderen die Verhaltensweisen mancher Mitarbeiter oder Vorgesetzter. Die Diskrepanz zwischen eigenen und Unternehmensinteressen kann einen Hauptstressor darstellen, aber auch intrafamiliäre Konflikte belasten.

Häufig stellt sich bei einer Stressanalyse heraus, dass eigene Verhaltensmuster, auf bestimmte Einflüsse von außen zu reagieren, zum Stress maßgeblich beitragen. Es gibt Situationen, die durch eine schnelle Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen, die für uns nicht erkennbar und dadurch auch nicht verantwortbar ist, eine rasche Anpassung der Strategie erfordern. Darauf können Sie unterschiedlich reagieren.

Sie fühlen sich bedroht durch die neue Situation, voller Zweifel ob Ihnen die passende Antwort auf die neue Fragestellung einfallen wird, oder Sie nehmen es gelassen hin und machen die neue Herausforderung zur Quelle Ihrer Energie.

Dies gelingt dann, wenn Sie über eine starke innere Mitte verfügen und flexibel auf Kräfte von außen reagieren können.

Es kann nicht erfolgreich sein, gegen diese starken Kräfte anzukämpfen. Vielmehr ist das harmonische Einbringen der eigenen Energie, um eine Steuerung der Veränderungsprozesse im eigenen Sinne zu bewirken, die adäquate Strategie.

Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit Kritik:

Sie können die Kritik brüsk von sich weisen und sich über diese Ungeheuerlichkeit ärgern. Das wird Sie aber stressen.

Sie haben aber auch die Möglichkeit, Ihre eigene Position zu verlassen und versetzen sich in denjenigen der die Kritik ausgesprochen hat. Sie überlegen sich, warum und mit welchem Ziel die Kritik geübt wurde. Wollte man Ihnen schaden oder helfen? Schaden um als Kritiker selber zu gewinnen? Oder helfen und dabei in der Form vergriffen? Oder wollte man Ihnen helfen, weil es tatsächlich etwas zu optimieren gab und Sie dies noch gar nicht wahrgenommen hatten? Wenn Sie diese Form der Kritik harmonisch aufnehmen und zu den entsprechenden Änderungen fähig sind, sind sie in Ihrer Position gestärkt worden. Wenn die Kritik unfreundliche Ziele hatte, sind sie trotzdem um die Erkenntnis reicher, wer sie attackiert und wo Sie nach außen hin schwache Punkte bieten. Es kostet auch den Kritiker Energie diese Aussagen zu tätigen und Sie können diese Energie für sich nutzen.

Das waren nur zwei von vielen Situationen im täglichen Leben, die den Menschen stressen oder stärken können. Wichtig ist es, die Verhaltensmuster, die hinter diesen Vorgängen stecken, bei sich selber zu erkennen und kritisch zu überprüfen.

Wenn ich alles was auf mich zukommt zunächst als negativ betrachte und es sofort kampfbereit abzuwehren versuche, versetze ich mich dadurch in Dauerstress, der meine Energien rasch verbrauchen wird.

Es ist nicht leicht aus diesem Verhaltensmuster auszubrechen, denn es ist ja auch ein Produkt unserer Erziehung und der persönlichen Historie zum einen, aber auch von gesellschaftlichen Entwicklungen zum anderen. Der Konkurrenzkampf einer Leistungsgesellschaft, das hohe Sozialprestige eines gestressten Managers, das mit einem Magengeschwür eher noch steigt als sinkt, haben über lange Jahre zu einer Verfestigung solcher Verhaltensmuster beigetragen.

Die Hinwendung zu einer Haltung, alles Neue positiv zu betrachten, es mit einer gesunden Neugierde spielerisch zu begreifen, ist eine Rückkehr in die eigene früheste Kindheit. Denn so haben wir uns verhalten, ehe wir mehr oder weniger häufig negative Erfahrungen mit neuen Dingen wie z.B. heißen Herdplatten, neuen Freunden, z. B. dem süßen kleinen Hund, der dann doch in die Finger zwickt und anderen Frustrationserlebnissen gemacht haben.

Es scheint so, dass der Zuwachs an Wissen und Erkenntnissen mit dem Verlust einer positiven, stressfreien Haltung gegenüber der Umwelt und der Mitmenschen erkauft wurde. Misstrauen und Abwehrhaltung sollen vor neuen Frustrationen schützen, hindern uns aber andere Verhaltensmuster anzunehmen. Warum sollten wir uns auch ändern, solange wir damit auch ein Stückchen weit Erfolg haben, sprich uns nicht öfter die Finger an der Herdplatte verbrannt haben.

Wäre es nicht einen Versuch wert, beide Zustände zu kombinieren, den kindlichen vertrauensvollen Umgang mit der belebten und unbelebten Umwelt (bei geringem Erkenntnisstand) und den jetzigen Zustand des Wissens (bei Kampfbereitschaft und hohem Stresspegel?). Ein schöner Gedanke, das Weltoffene von damals mit dem Wissen von heute zu vereinen, aber wie kann man das schaffen?

Ein erster Schritt könnte es sein, alles was von außen auf uns eindringt als Energie zu betrachten. Und zwar ganz wertfrei, ohne in positive oder negative Energien zu unterscheiden. Positiv oder negativ in ihrer Auswirkung auf Sie wird die Energie durch Ihr eigenes Verhalten. Wie Sie damit umgehen entscheidet.

 

Wie kann man lernen mit Energie umzugehen?

Die Erfahrung zeigt, daß man mit dem Körper rascher lernen kann, das Gelernte tiefer verankert wird und in Krisensituationen leichter abrufbar ist

als theoretische Erkenntnis. Einmal gesehen wie es geht, ist besser als 5 mal die Gebrauchsanleitung gelesen zu haben. Und es einmal selber getan zu haben hält länger im Gedächtnis, als es 5 mal gesehen zu haben.

Man spricht auch von Körperintelligenz wenn wir etwas richtig tun, ohne darüber nachzudenken. Der Körper ist zwar stark von unserer Psyche abhängig wie uralte Erfahrungen aller traditionellen Medizinsysteme und neuerdings auch wissenschaftliche Disziplinen wie die Psychosomatik und Psychoneuroimmunologie belegen. Umgekehrt beeinflusst aber der Körper genauso unsere Psyche. Denken sie an die psychisch ausgleichende Wirkung von Ausdauersport, an Entspannung durch harmonische Bewegungsabläufe wie beim Tai Chi oder Qi Gong. Wir wissen heute viel über die Wirkungsweise sogenannter Neurotransmitter die durch körperliche Aktivität ausgeschüttet werden und in ihrer Funktion als Botenstoffe Veränderungen in vielen Zentren unseres Gehirns bewirken und damit unser bewußtes Erleben der jeweiligen Umweltsituation verändern. Die Umweltreize bleiben dabei die gleichen, sie werden nur anders verarbeitet und dieselbe Situation wird von uns anders bewertet.

 

Kampfkünste:

In den Kampfkünsten wird traditionell durch jahrelanges Trainieren körperlicher Techniken Einfluss auf den Geist ausgeübt.

Ziel ist es, auch im Augenblick persönlicher, körperlicher, ja oft vitaler Bedrohung einen klaren, ruhigen Geist zu haben, um die lebenswichtigen Entscheidungen in Sekundenbruchteilen treffen zu können.

Die Ausbildung zu einem Kampfkunstmeister verläuft in Stufen:

Die 1. Stufe lehrt die Konzentration auf die eigene Person, die eigene körperliche Mitte zu finden und sich aus dieser heraus kontrolliert zu bewegen. Auch auf geistiger Ebene geht es um die Kontrolle der eigenen Reaktionen im Augenblick von Stress und Gefahr. Nur wer sich selber kontrollieren kann wird den Angreifer beherrschen. (Im übertragen Sinne, auf den geschäftlichen Alltag bezogen heißt das, die eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen. Nur wer sich selber kennt kann sich gezielt weiterentwickeln. Aus dem Wissen um die eigenen Stärken erwächst das Selbstvertrauen, welches man braucht die inneren Ängste im Zaum zu halten.)

Die 2. Stufe der Ausbildung richtet sich auf die Beobachtung des Angreifers. Die Motivation des Gegners zu erkennen und seine Verhaltensweise zu studieren sind wichtige Aspekte des Kampfkünste.

Die nächste und höchste Stufe beschäftigt sich mit der Taktik. Man muß die Wechselwirkungen zwischen dem eigenen Handeln und dem Verhalten des Gegners verstehen lernen.

All diese Prinzipien lassen sich in unser tägliches Leben übertragen um für den "Lebenskampf" optimal gerüstet zu sein. Vor allem Führungskräfte nutzen diese Möglichkeiten nicht nur in Japan, auch in den USA und Europa gibt es Seminare zum Thema "So werde ich Schwarzgurt-Manager".

Unser ursprüngliches Ziel, Stress, der aus dem ständigen Kampf oder zumindest aus der Kampfbereitschaft entsteht, zu meiden, ist jedoch noch nicht erreicht. Durch die Vervollkommnung der Kampftechnik und -strategie wird man stressresistenter. Die Grundintention der traditionellen Kampfkunst ist es aber, den Sieg davonzutragen und den Gegner auszuschalten. Notfalls mit Gewalt. Gewalt schafft Gegengewalt. Diese Spirale aus Gewalt, Kampf und Stress kann aber durchbrochen werden.

 

Die Kunst des Nichtkämpfens - Aikido

Aikido entstand in der Mitte des letzten Jahrhunderts in Japan. Der Kampfkunstmeister Morihei Ueshiba (1883 – 1969) entwickelte Aikido aus Formen des Schwertkampfes und verschiedenen unbewaffneten Kampftechniken des Bujutsu.

Meister Ueshiba war ein religiöser Mensch und sein Ziel war es, ein Verteidigungssystem zu schaffen, das den Angegriffenen sicher schützt aber so gewaltfrei ist, daß der Angreifer nicht verletzt wird. Aikido ist rein defensiv, es lebt von der Energie des Angreifers. Der Angriff wird neutralisiert und der Angreifer dadurch belehrt, daß Gewalt kein Mittel sinnvoller Kommunikation zwischen Menschen darstellen kann.

Das körperliche Üben von Aikido sieht auch nicht wie ein Kampf aus, eher wie ein gemeinsamer Tanz. Der Verteidiger bindet sich in den Fluss der Angriffsenergie ein und lenkt aus einer stabilen Körpermitte heraus den Angreifer in Kreis- oder Spiralbahnen. Der Angreifer verliert dadurch sein Gleichgewicht und kann nun leicht geführt werden.

Den natürlichen Impuls, Krafteinwirkung mit Gegenkraft zu beantworten, muß sich der Aikido-Praktizierende regelrecht abtrainieren. Er lernt, aus einer disharmonischen Situation, einen körperlichen Angriff darf man wohl als solche bezeichnen, eine harmonische gemeinsame Bewegung herzustellen, in der der Aikidoka die führende Kontrolle inne hat.

Man nennt das "Führen aus der Mitte". Einen Angreifer in seiner Person zu akzeptieren, seine Motivation zu verstehen und ihn für diese Handlung nicht zu bestrafen, setzt einen hohen ethischen Anspruch des Verteidigers voraus.

Die Fähigkeit sich durchzusetzen, ohne anderen weh zu tun, seine Mitarbeiter nicht zu demotivieren, in Konfliktsituationen sogenannte win - win - Konstellationen herzustellen, ist heute bei Führungskräften in allen Bereichen eine vielgesuchte Eigenschaft.

Die fremden Energien zu nutzen, die eigenen Kräfte im geeigneten Moment wohldosiert dazuzugeben, um Verändergungsprozesse zu lenken, spart im Berufs- wie im Privatleben wichtige Energie und vermeidet Stress.

Das körperliche Aikidotraining bietet die Möglichkeit zur Selbstbeobachtung:

Wie aggressiv oder wie verkrampft gehe ich mit Einflüssen von außen um? Wie stabil ist meine Körpermitte? Kann ich körperliche und geistige Energien

koordinieren? Habe ich die richtige Distanz zu meinen Angreifern? Atme ich richtig?

So kann man tief verwurzelte Verhaltensweisen erkennen und überdenken. Aikido läßt den Übenden erleben, daß man sich auch anders durch den Alltag bewegen kann: locker, entspannt, offen für alles Neue von außen, flexibel und angemessen reagierend.

Aikido dient der Ausschaltung von Angst und Aggressivität, der Weiterentwicklung der Persönlichkeit und Geisteshaltung sowie der Mobilisierung unserer innewohnenden Energie.

Aikido eignet sich für Frauen und Männer jeden Alters gleichermaßen, da Koordination und Gefühl wichtiger als körperliche Kraft sind. Aikido kann vom Kindesalter an lebensbegleitend bis ins hohe Alter ausgeübt werden.

Aikido hat sich über die ganze Welt verbreitet. In Deutschland gibt es viele Sportvereine und private Aikidoschulen wo man diese Kunst erlernen und üben kann.

Noch wichtiger als das Üben der Techniken auf der Matte ist das Übertragen der ethischen Prinzipien in das tägliche Leben um ein Meister des Aikido zu werden.